Sabbatical

Mit 55 kommt man in ein Zwischenalter: Es ist mehr als ein halbes Jahrhundert, die ich auf dieser Erde verweile, aber es sind gefühlt noch lange bis sechzig. Ich zähle also jetzt zu den reiferen Semestern, noch mit Elan, aber auch mit Ablaufdatum, zumindest was das Arbeitsleben angeht. Dieses soll noch zehn Jahre dauern, mit meinen vielen Interessen vielleicht auch etwas länger, sofern die Gesundheit mitspielt.

Ein grosses Geburtstagsfest fand ich unpassend und so konsumierte ich am Geburtstag zumindest die Freifahrt, die mir die ÖBB mit der Vorteilscard schenkte, fuhr mit dem Faltrad zum Bahnhof und mit dem RailJet und der S-Bahn nach Matrei am Brenner. Von dort düste ich mit Föhnwind im Rücken und einigen Gegenstiegen, die ich so nicht mehr aus meiner Jugendzeit in Erinnerung hatte, als ich den alten Römerweg auf der Ostseite des Wipptales mit der Puch M50 raufkroch und runter glühte, nach Innsbruck und lud mich bei meinen Verwandten zur Jause ein.

Ich spürte das Bedürfnis, einige Dinge im Leben ordnen zu wollen. Um mehr Zeit zum Nachdenken zu haben reduzierte ich mein Engagement an der FH Vorarlberg und vereinbarte ein Teil-Sabbatical von Oktober 2019 bis Jänner 2020. Im Wesentlichen bedeutete dies, dass ich vier Monate kaum unterrichten musste, sondern nur ein Forschungsprojekt fertig stellen, einige Webseiten aufräumen und Studierende mit der Konzeption ihrer Abschlussarbeiten intensiver betreuen sollte. Ein Dank an alle an der FH die das ermöglichten und insbesondere an M, der meinen Part bei der Lehrveranstaltung Ökonomie & Design übernahm. Ich legte mir ein Notizbüchlein an und schrieb darin über ewig Unerledigtes und die nächsten Herausforderungen. Von den geplanten Vorhaben und zufälligen Ereignissen haben sich in diesen vier Monaten ergeben:

  • mit M im Spätherbst noch zweimal auf dem Katamaran mitgesegelt und diesen zerlegt und ins Winterlager gebracht
  • mit Freund A, der unser früheres Wochenendhaus betreut, ins Weinviertel gefahren und in Bernhardsthal eine furchterregende Krampus - Show erlebt
  • endlich mal wieder R+P in Oberbayern besucht und mit ihnen durch Winterwälder gewandert und viel Musik gehört
  • mit K & V und Studienkollege C über den Bisamberg spaziert und bei einem Heurigen eingekehrt
  • Beim Kreativwirtschaftsforum „Die digitalisierte Kreativwirtschaft“ Berufsbilder der Zukunft mitentwickelt
  • mit L, T und C über die Herausforderungen der ForFuture Bewegung bei der Online Kommunikation und deren Zerspragelung in Chat - Gruppen diskutiert und wie das nur über attraktive Alternativangebote mit Single-Sign-On zu lösen wäre
  • das Forschungsprojekt Gemeindekommunikation im 21. Jahrhundert abgeschlossen und eine Pubikation in der Zeitschrift Kommunal organisiert
  • die "Ethify Yourself" Plattform mit A's Unterstützung auf Drupal 7 migriert, darin die Landing Page und Inhaltsbeschreibungen für Lehrveranstaltungen neu gestaltet sowie einige Texte des Online Buches überarbeitet, jedoch keine neuen Kapitel geschrieben ("Ethify Artifcial Intelligence", "Ethify your Language", Ethify your Garden" ... - ich denke da werde ich Expert*innen ansprechen ob sie dazu was verfassen wollen)
  • ein Konzept für ein Wandelsekretariat mit dem Kernteam der Wandeltreppe ausgearbeitet und dem Land Vorarlberg vorgestellt
  • Nationalratsabgeordnete vor den Koalitionsverhandlungen getroffen und für diese Positionen zu Netzkultur und Urheberrecht aufbereitet
  • mir einen neuen Arbeitsplatz mit höhenverstellbaren Bildschirmen zu Hause gebaut
  • im 1992 selbstgebauten Bett endlich eine Rutschbefestigung für die Querlatten eingebaut
  • einige Wanderungen gemacht

Im meienr Rolle als Vorstandsmitglied bei fairkom hat es leider keine Schaffenspause gegeben, auch weil ein Mitarbeiter in Vaterkarenz ist:

  • für den Relaunch der fairchat App habe ich einen fork der RocketChat React Native App gemacht, in Visual Code zahlreiche Anpassungen umgesetzt und auf dem Android App Store und als Sideload released
  • beim IT Beratertag in der Hofburg meine Kontakte mit den Kollegen der Open Source Experts Group aufgefrischt und erweitert
  • mit A einen kubernetes Cluster aufgebaut und ins Zeitalter des Cloud Computing eingestiegen
  • die Skriptsprache Ansible gelernt um viele Server gleichzeitig abzusichern (im Internet herrscht Krieg!)
  • einen Performance Bug in der weit verbreiteten nextcloud entdeckt und eine Lösung getestet und vorgeschlagen
  • einen neuen Buchhalter gefunden und ongeboarded
  • für den beliebten Doodle Ersatzdienst TERMINO eine Erweiterung für Buchungsvorgänge mitkonzipiert (geht im 3Qu20 online)
  • für eine Jugend - App in der Schweiz Chat-Funktionen konzipiert und ein Architekturpapier geschrieben

Ich wollte auch wieder mal in Europa reisen, mit Walkman und alten Tapes darin, doch da wurde nichts draus. Auch habe ich nicht geschafft:

  • Chaos Computer Congress zwischen Weihnachten und Neujahr in Leipzig (hab mir aber einige Aufzeichnungen angesehen)
  • ForFuture Marsch zum World Economic Forum von Schiers nach Davos 21.-24.1.2020
  • ChangeNow Congress in Paris 28.-30.1.2020
  • FOSDEM Brüssel - die grösste europäische Veranstaltung der freien Software Community in Brüssel mal besuchen oder dort was präsentieren

Dafür war ich am 29. & 30. Jänner 2020 in Salzburg beim Seminar "Hände weg von unseren Daten!" eingeladen, einen Input zu geben. Jeffrey Wimmer leitete die Teilnehmer*innen durch den aktuellen Diskurs der Kommunikationswissenschaft, und wie sich dieser mit der starken Nutzung sozialer Medien ändert. Dazu passte wunderbar, dass ich gerade das ausgezeichnete Buch von Gert Lovink zum Digitalen Nihilismus lese - eine Rezension zu schreiben ist sich jedoch auch nicht ausgegangen. Bei der Rückkehr vom Seminar bestärkte mich die Ausstellung der InterMedia Studierenden zur "Generation Z" im Wirkraum Dornbirn eine These, die wir dort erarbeiteten: Utopie und Dystopie fallen zusammen und aus dem Strudel des sozialen Medienstroms werden wir mit Likes und Memes weder uns retten noch die Welt gerechter machen können.

Auch ein Artikel oder Buchbeitrag zu der beim Ars Electronica Festival 2019 erstmals vorgestellten Label Commons Public License ist aufgeschoben. Vielleicht sollte ich dazu gleich ein Buch schreiben: Wem gehören die Hashtags?

Im Dezember 2019 hat sich der Beirat der NLnet Stiftung entschieden, mir und Open Source Mitstreiter*innen ein Budget zu schenken für ein Internet ohne Datenkraken und die Synchronisation von Nachhaltigkeitsplattformen. Deren Motto ist mir sympathisch und Auftrag zugleich: "We fix the Internet" - sie spielen dabei auf das Machtgefälle der Big-Five an, die alle unsere Daten absaugen.

Ende Januar 2020 endet das Teil-Sabbatical und ich ziehe Resumee: es war viel zu kurz, denn offenbar wird mir nie langweilig und es gibt viel zu tun. Die TO DO Liste auf meinem Blog habe ich aussortiert und als Issues neu angelegt, sodass sie nun als Kanban Board schön übersichtlich auch als Einladung zur Mitwirkung oder als Aufgabenstellungen für Studierende sichtbar ist.  Nicht aussortiert habe ich meine Sammlung an Kommunikationsunfällen der Nachhaltigkeitsszene - da werde ich weiterhin zufällige Beispiele herausgreifen um zu zeigen, wie man Kampagnen, Logos und Erscheinungsbilder besser nicht gestalten sollte.

Ich freue mich schon wieder auf die Lehrveranstaltungen im Sommersemester 2020 an der FH Vorarlberg: Projektmanagement für Kreativschaffende, Humanökologie, Wirtschaftsethik für Informatiker, Berufsvorbereitung für InterMedia Master Studierende, die Sustainability Innovation Class und mehr als ein dutzend Abschlussarbeiten, die ich betreuen darf. Oder die Social Media Inputs nächste Woche an der Volksschule Laterns oder für die e5 Gemeinden.

Jetzt müssen die Weltbestaunung, manche Freunde und einige Herzensprojekte wieder etwas warten.  Oder ich mach bald wieder ein Sabbatical, dann aber ein richtiges! Spätestens in zehn Jahren dann ...